Das geht auch ohne!
Wenn wir am Morgen noch verschlafen unsere Feuchtigkeitslotion auftragen und unseren Augen mit Mascara mehr Ausdruck verleihen, verschwenden wir wohl keinen Gedanken daran, dass diese Kosmetikprodukte womöglich an Tieren getestet wurden. Damit wir ohne Ausschlag frisch und jung aussehen, wird die Unbedenklichkeit von Cremes, Make-ups und Lippenstiften in vielen Fällen an Tieren überprüft. In Deutschland und Europa sind solche Versuche mittlerweile verboten. Aber auch Medikamente werden vor Markteinführung intensiv an Tieren auf ihre Wirkung getestet, unterschiedliche Zusammensetzungen und Dosierungen erforscht, bis ein für Menschen wirksames Medikament mit möglichst wenigen Nebenwirkungen entstanden ist.
Junger Nachwuchswissenschaftler bereitet im Labor das Zellgewebe auf (c) Jana Dünnhaupt Uni Magdeburg
Das Team um Prof. Dr. Heike Walles vom Institut für Chemie der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg entwickelt Alternativen zu diesen Tierversuchen. Mit dem sogenannten Tissue Engineering kann es Zellen im Labor zielgerichtet kultivieren und damit menschliches Gewebe außerhalb des Körpers herstellen. Normalerweise wird dieses verwendet, um krankes Gewebe bei Patienten zu ersetzen, wie beispielsweise Knorpel. Solche körpereigenen Knorpelimplantate werden in bestimmten Fällen sogar von den Krankenkassen erstattet. In Magdeburg soll es aber nicht für Transplantate genutzt werden, sondern um Risikobewertungen für Kosmetika oder Medikamente vornehmen zu können. Nach DIN ISO zertifiziert, kann mit einigen dieser Gewebemodelle die Biokompatibilität – also die Gewebeverträglichkeit – für bestimmte Substanzen und Materialien bereits nachgewiesen werden. „Unser großes Ziel ist es, dass wir durch Tissue Engineering eines Tages einen Großteil der Tierversuche ersetzen können und Forschung ohne Tierleid möglich ist“, blickt Prof. Walles voller Optimismus in die Zukunft. „Dafür wollen wir noch viel mehr Modelle entwickeln, mit denen Medikamente und zukünftig auch Medizinprodukte auf ihre Unbedenklichkeit getestet werden können.“
Der Fokus ihrer Forschung liegt aktuell auf Anwendungen für die Atemwege. In dem Forschungsprojekt TIRAMISU, das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung mit mehr als 3,3 Millionen Euro gefördert wird, züchten die Biologen und Biologinnen Rachengewebe für Endoskophersteller. Diese können damit Geräte entwickeln, die Veränderungen der Schleimhaut frühzeitig erkennen. „Im Rachen entstehen häufig Tumore, die viel zu spät entdeckt werden“, erklärt die Wissenschaftlerin. „Je früher wir sie erkennen, desto besser können sie therapiert werden.“ Der Auslöser für die Tumore ist häufig ein verändertes Mikrobiom, also veränderte Bakterienpopulationen, die unseren Körper besiedeln. Im Labor entwickelt das Forschungsteam darum unterschiedliche Gewebearten: gesundes Gewebe ohne Mikrobiom, gesundes Gewebe mit gesundem Mikrobiom, gesundes Gewebe mit verändertem Mikrobiom und Gewebe mit einem Anfangsstadium eines Tumors. Die Endoskope sollen anhand dieser Gewebemodelle darauf trainiert werden, die verschiedenen Signale mit einem Laser zu detektieren. „Zum Abschluss des Projektes müssen wir zwölf Gewebe herstellen und diese dem Hersteller übergeben. Dieser führt dann die Untersuchungen durch, ohne zu wissen, welche Gewebe er vor sich hat“, erklärt Prof. Walles. Am Ende müssen sie bei 90 Prozent der Proben eine richtige Diagnose stellen. Ist dieser doppelt geblendete Test bestanden, stehen die Chancen gut, die Gewebemodelle zukünftig auch für andere Endoskope und deren Zulassung einsetzen zu können.
Für die Entwicklung der Modelle nutzen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Kollagen – ein Protein, aus dem unser Körper sein Bindegewebe aufbaut – und Fibroblasten, die dafür sorgen, dass das Kollagen immer schön straff bleibt. Ist es bereits verbraucht oder zu sehr beansprucht, bauen die Fibroblasten die Fasern ab und neues Kollagen auf. In jungen Jahren machen sie das besser, zum Ende des Lebens schlechter. So entstehen die unliebsamen Falten. Zudem geben sie wichtige Informationen an andere Zellen weiter. „In der Lunge richten sich Zellen zum Beispiel nach oben in Richtung Luft aus. In unseren Modellen werden sie darum von unten ernährt und haben nach oben Luftkontakt. Durch die Fibroblasten wissen sie, wo oben und wo unten ist“, erklärt Prof. Walles. „Das Gleiche machen wir bei der Haut. Die Zellen fühlen, wo die Haut herkommt und dann fangen sie an, sich wie Palisaden aufzubauen – das ist wirklich faszinierend.“
Die Modelle bestehen entweder aus sogenannten Zelllinien, die zum Beispiel aus Tumoren isoliert werden. Diese können sich unendlich vermehren, besitzen aber nicht alle Funktionen der ursprünglichen Zelle. Oder es kommen primäre Zellen zum Einsatz, die aus dem Gewebe von Patienten isoliert werden. Mit diesen Zellen kann das Forschungsteam jedoch nur eine begrenzte Zeit arbeiten. Hautzellen teilen sich zum Beispiel zehn Mal, dann sterben sie ab. Werden die Hautmodelle auf diesen primären Zellen aufgebaut, passiert genau dasselbe. „Es kommt darauf an, was wir mit dem Modell untersuchen wollen. Mit den Zelllinien können wir immer wieder die gleichen, standardisierten Versuche durchführen“, berichtet die Biologin. „Die Gewebeproben der Patienten haben noch alle Funktionen, sind mit anderen Proben aber nicht zu 100 Prozent vergleichbar. Wir können sie jedoch so vermehren, dass wir die hundertfache Menge an Haut herstellen und diese dann bei -150 Grad Celsius einfrieren. Damit können wir viele Untersuchungen durchführen.“
Prof. Heike Walles (Foto: Jana Dünnhaupt / Uni Magdeburg)
Was all den Modellen bisher fehlt, sind unter anderem Haare und Drüsen. Auch das wäre mit den Methoden des Tissue Engineering möglich, ist aber sehr aufwendig und für die aktuelle Forschung an der Uni Magdeburg nicht notwendig. „Wir wollen vor allem zeigen, dass sich Tissue Engineering als Alternative zu Tierversuchen eignet“, fasst Prof. Walles die Motivation zusammen. „Mit den Aussagen über die Wirkung von Medikamenten sind wir häufig sogar näher dran als mit einem Tierversuch. Ein bereits zugelassenes Hautmodell zur Testung von Kosmetika kommt den Reaktionen, die im menschlichen Körper stattfinden, beispielsweise viel näher als die Versuche an Kaninchen.“ Für die Entwicklung neuer Therapien von Tumoren sei das extrem wichtig. Bisher müssen dafür nämlich Mäuse genetisch verändert oder mit bestimmten Substanzen behandelt werden, damit sich Tumore bilden. Das biologische Gewebe dieser Tumore sieht zwar genauso aus; der Hintergrund, warum sich die Tumore ausgebildet haben, ist aber ein anderer. „Darum sind sie häufig weniger aussagekräftig“, gibt Prof. Walles zu bedenken. Für Partner aus dem Forschungscampus STIMULATE entwickeln die Forschenden darum Gewebemodelle für die Lunge. Neu entwickelte Elektroden sollen künftig gezielt Lungenkrebs veröden, sodass die Tumore abgetötet werden, das gesunde Gewebe aber möglichst wenig Schaden nimmt. Anhand der Modelle können diese Elektroden ohne Tierversuche getestet und optimiert werden.
Doch nicht nur Medizinprodukte können damit verbessert werden, auch Chirurginnen und Chirurgen können ihre Fertigkeiten für Operationen trainieren. Am Computer erstellen die Ingenieure zum Beispiel mit realen Patientendaten das 3D-Modell eines Thorax. Dieser wird ausgedruckt und in die Kunststoffumgebung wird das biologische Gewebe gesetzt. Ein ähnliches Projekt ist in Kooperation mit der Fakultät für Informatik geplant. Dort werden aus Patientendaten Aneurysmen in Virtual Reality simuliert. Diese Daten könnte Prof. Walles nutzen, um einen Schädel auszudrucken, mit dem Eingriffe vorab speziell für einen Patienten geplant und geübt werden können. „Die ersten Rückmeldungen von Chirurgen sind auf jeden Fall positiv. Sie erkennen keinen Unterschied zur echten Physiologie; es fühlt sich an wie echter Knochen“, freut sich Prof. Walles. Langfristig wollen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auch das Hautgewebe drucken. Dazu brauchen sie spezielle Biotinten, die sie zusammen mit Kolleginnen und Kollegen aus dem Institut für Chemie in den nächsten Jahren entwickeln wollen. Der größte Traum von Prof. Walles ist es jedoch, mit komplett synthetischen Materialien arbeiten zu können. Neben Proben von Patientinnen und Patienten greifen die Wissenschaftler für die Gewinnung des Kollagens auch auf tierische Gewebe zurück, beispielsweise aus Schlachtabfällen. „Die ersten synthetischen Modelle, die wir entwickelt haben, hatten noch nicht die Eigenschaften wie biologische Materialien. Ich bin aber ziemlich zuversichtlich, dass wir dem Ziel in den kommenden Jahren einen großen Schritt näher kommen“, zeigt sich Prof. Walles optimistisch.
Mit Hilfe eines gedruckten Herzens wird geprüft, ob die Abmaße im Thorax stimmen. Danach werden entsprechende lebende Gewebemodelle aufgebaut und integriert, so entsteht Schritt für Schritt ein Biophantom als Alternative zum Tiermodell. (Foto: Jana Dünnhaupt / Uni Magdeburg)
Um dieses Ziel zu erreichen, profitiert das Forschungsteam auch von der Expertise anderer Fachdisziplinen. Andersrum stellen sie ihr enormes Wissen und die technologische Infrastruktur für Experimente zur Verfügung. Dazu werden am Institut für Chemie sogenannte Core Facilities aufgebaut – eine Art Coworking-Space für Forscherinnen und Forscher, die für ihre biologischen Fragestellungen auf die teure Technik und das Fachwissen angewiesen sind. Aus der ganzen Welt und aus ganz anderen Bereichen können Forschende diese Core Facilities nutzen. „Wir selber haben natürlich die größte Expertise für Atemwegsmodelle. Das heißt aber nicht, dass wir nicht mit einer Kollegin an Brustkrebs arbeiten können“, weiß Prof. Walles die Vorzüge ihres interdisziplinären Forschungsfeldes zu schätzen. „Wir sind letztendlich ein kleines Zahnrädchen, das das große Ganze antreibt. Aber zusammen können wir auch als kleine Universität große Fortschritte machen.“
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